1. August 2019

All das zu verlieren von Leïla Slimani




♥♥♥
Leïla Slimani
All das zu verlieren
224 Seiten
Roman Luchterhand




Adèle hat alles, was scheinbar ein glückliches Leben ausmacht: Eine Wohnung in einem gehobenen Pariser Viertel, den angesehenen Ehemann, das gemeinsame Kind, einen Job, der ihr Unabhängigkeit verleiht. Aber all das macht ihr Leben nur oberflächlich perfekt. Sie versucht die innere Abgestumpftheit, Langeweile und Getriebenheit durch Sex mit Fremden zu betäuben und entfernt sich dabei nicht nur von ihrer Familie, sondern auch von sich selbst ... 


Nachdem uns Slimanis Geschichtensammlung "Sex und Lügen" mit ihrer unverhüllten, erschreckenden Ehrlichkeit sehr zum Nachdenken angeregt und uns viele Einblicke in die Welt der islamischen Frauen gegeben hat, konnten wir es kaum erwarten, ihren neuen Roman "All das zu verlieren" zu lesen. Wir haben eine zerrissene Protagonistin erwartet, die dennoch ihren Weg geht. Gefunden haben wir die emotional verstörte, unmoralische, teilweise verzweifelte Adèle.

Das Buch beginnt mitten in Adèles Leben, es gibt keine Vorgeschichte, keine Einführung, wir lernen die Protagonistin völlig unverfälscht und mit all ihren Lastern gleich auf der ersten Seite kennen. Was zunächst nach einer notorisch gelangweilten, unzufriedenen Frau klingt, nimmt schnell erste Züge selbstzerstörerischen Handelns an. Anfangs haben wir versucht, Adèles Taten nachzuvollziehen. Ihre Ehe scheint abgedroschen zu sein, es gibt keine Leidenschaft und soweit wir das aus ihrer Sicht beurteilen können – auch keine Liebe. Das gemeinsame Kind ist Belastung statt Lebensglück. All das ist so eindringlich erzählt, dass wir mit der Protagonistin gemeinsam in Melancholie versunken sind. Slimani schildert die Dinge so, wie sie wirklich sein können und bestätigt damit die geheimen Ängste, die auch wir als Leserinnen manchmal in Bezug auf das Leben haben. Was ist, wenn alles nur perfekt wirkt, man selbst aber in Unglück versinkt und nicht das fühlt, was von einem erwartet wird? Was, wenn man kein Glück in der Mutterrolle findet, wenn der Job einen auslaugt, alles bedeutungslos ist? Adèle sucht auf ihre unstetige Art ein kleines bisschen Farbe in ihrem grauen Leben und vermag diese nicht zu finden. Deswegen schläft sie mit fremden, teilweise abschreckenden Männern und empfindet auch dabei nicht genug. Nach und nach wird dem Lesenden mit Erschrecken bewusst, wie psychisch instabil sie wirklich ist. Sie zweifelt an allen Menschen, die sie umgeben, hat Angst entdeckt zu werden, Angst vor Nähe. 
Wir haben es zum Teil kaum ertragen, weiterzulesen, haben den Kopf geschüttelt und keine der Figuren verstanden. Alles zielt auf Außenwirkung. Sie alle sind gefangen in einem Schaufenster. Unfähig, mehr zu sein als Marionetten der Gesellschaft, versuchen sie ihre inneren Stimmen abzutöten. Diese Stimmung zieht sich durch das ganze Buch. Wie auch im Leben selbst kann keine beschwichtigende, alle zufriedenstellende Auflösung erwartet werden. 
"All das zu verlieren" ist voll von den Enttäuschungen und Verstörungen, die das Leben bereithalten kann und die zu viel sind für eine innerlich völlig isolierte Frau. Es gibt einem keine moralische Wertung vor. Was das Buch einem bietet ist ein Einblick in das Leben einer unglücklichen Französin, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Von uns erhält dieser Einblick in eine zerstörerische Existenz 4 von 5 Herzen. Uns hat das Buch mitgenommen und erdrückt, auch der Schreibstil hat uns sehr gefallen, aber wir sind am Ende einfach nur fragend zurückgeblieben. Wir haben einen kurzen Einblick in das Leben einer Fremden erhalten. Als hätte man willkürlich den Fernseher eingeschaltet, ihn aber auch nach einigen Stunden wieder ausgeschaltet, ungeachtet der noch laufenden Geschichte. Adèles Leben ist so eindringlich dargestellt, dass es einem den Boden unter den Füßen wegzieht und dann bedrückt und betroffen zurücklässt. Dieses Gefühl der dauerhaften Beklommenheit und Belastung war so real, dass wir das Geschehen nicht nur gelesen, sondern regelrecht mitempfunden haben. Gerade deshalb wollen wir nicht von Lesegenuss sprechen und werden dieses Gefühl sicher noch lange mit uns herumtragen. Das Buch ist nichts für schwache Gemüter und auch nichts für Menschen, die andere schnell verurteilen. Es ist für die Leser, die wissen, dass das Leben Enttäuschungen bereithält und jeder auf seine Art versucht damit umzugehen, ob gesellschaftlich respektabel oder nicht.

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