20. März 2021

Meine dunkle Vanessa von Kate Elizabeth Russell

Achtung, in diesem Buch geht es um eine Missbrauchsgeschichte. 



 
Damals: Vanessa ist gerade einmal 15 Jahre alt, als sie Jacob Strane begegnet. Der 27 Jahre ältere Lehrer wird schnell zu ihrer einzigen Bezugsperson und ein verbotenes Verhältnis entwickelt sich zwischen ihnen.

Heute: Eine ehemalige Schülerin zeigt Strane öffentlich wegen sexuellen Missbrauchs an. Vanessa möchte das alles nicht glauben, immerhin hat er sie doch geliebt und vergöttert, das zwischen ihnen war die wahre Liebe. Doch der Vorfall lässt Vanessa nicht mehr los, sie gerät zwischen die Fronten und wird mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.
 
Meine dunkle Vanessa“ stellt uns gleich zu Beginn die Heldin der Geschichte vor, und zwar in zwei unterschiedlichen Versionen. Wir haben die junge, 15-jährige Vanessa im Jahr 2000, die ganz alleine am Internat ist und ihren neuen Lehrer kennenlernt. Und wir haben die erwachsene Vanessa, die 17 Jahre später mit den Missbrauchsvorfällen an ihrer Schule in Verbindung gebracht wird.
Die gesamte Geschichte wird aus der Sicht dieser beiden Vanessas erzählt, wodurch wir einen erschütternden Einblick in ihre Geschichte erhalten, denn was beide Versionen unauflöslich miteinander vereint, ist ihre Verbindung zu Jacob Strane.
 
Mitzuerleben, wie Vanessa Strane kennenlernt, hat uns Angst gemacht. Was zunächst wie eine zufällige, freundliche Begegnung mit einem mitfühlsamen Lehrer erscheint, wird schnell zum gezielten Vorgehen. Strane macht kleine Komplimente, gibt ihr das Gefühl verstanden zu werden und sexualisiert sie dabei gleichzeitig von Beginn an. Dabei nutzt er ihre Einsamkeit und Andersartigkeit voll für sich aus und schreckt vor nichts zurück. Dieses Vorgehen wirkt so kalkulierend, dass wir uns schnell gefragt haben, wie vielen anderen Mädchen er und auch andere sich so genährt haben.
Vanessa selbst wirkt geschmeichelt, aber auch zerrissen zwischen Abwehr und dem kindlichen Streben nach Aufmerksamkeit, zwischen der Frage, ob das „sein darf“ oder „sein soll“: 
„Ich weiß nicht, wie ich auf seine Geste reagieren soll. Es kommt mir vor, als sollte ich lachen. Ich frage mich, ob das Flirten [sic!] ist, aber das kann nicht sein. Flirten soll Spaß machen, und das hier ist zu heftig, um Spaß zu machen.“  (S. 52)
Die erwachsene Vanessa ist ebenso emotional komplex wie ihre jugendliche Version. Sie kann ihre eigene Geschichte nicht loslassen und pendelt beständig zwischen den Gefühlen, die sie für Mr. Strane hat, und dem Wissen einer Erwachsenen darüber, dass sexuelle Handlungen mit Minderjährigen Missbrauch sind. Sie hält immer noch Kontakt zu Strane, der sich ihr gegenüber bestimmt und kontrollierend benimmt. Die beiden holen sich immer wieder gegenseitig zurück in die Vergangenheit. Sie sind wie gefangen in einem anderen Leben, das so schon lange nicht mehr existiert.
 
Diesen beiden Versionen von Vanessa zu folgen, war unglaublich spannend, aber auch emotional erschütternd. Russell schafft es, uns die ganze Geschichte zu zeigen, Einblicke in das Davor und Danach zu geben und dabei eine komplexe Hauptfigur mit tiefgehender emotionaler Entwicklung zu erschaffen. Die Geschichte wird an keiner Stelle langatmig oder verfällt in ein typisches Schwarz-weiß-Muster. Stattdessen werden unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehene gezeigt, die weit über die klassische Opfer-Täter-Darstellung hinausgehen und uns an vielen Stellen mit der Frage zurückgelassen haben, wie viel eigentlich vor anderen passieren muss, damit sie sehen, was wirklich passiert.
 
„Meine dunkle Vanessa“ bekommt von uns 5 von 5 Herzen. Die Autorin führt uns in Form eines unglaublich brisanten Romans vor Augen, wie ein ganzes System dazu beiträgt, die Opfer von sexuellem Missbrauch zum Schweigen zu bringen, weil er für andere bequemer zu dulden als zu verfolgen ist. Der Roman zeigt gezielt, wie die Sexualisierung von Kindern (wie in Lolita) zu Missbräuchen beiträgt und dass diese umso ungesehener an Orten stattfinden, wo wir Sicherheit vermuten. Es geht hier nicht nur um die Geschichte einer Romanfigur, sondern um die Frage, wo Missbrauch anfängt und um all die echten Vanessas, für deren Schutz wir alle mitverantwortlich sind.
 
 
*Auf dieser Seite findet ihr Informationen über sexuellen Missbrauch und eine Übersicht von Beratungsstellen: www.hilfeportal-missbrauch.de/informationen/uebersicht-hilfe-und-beratung.html

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